Belcanto im Kunstlied – neue Wege der Liedinterpretation


- erschienen in der nmz (Neue Musikzeitung), Ausgabe: Februar 2006

Immer lauter werden die Rufe nach mehr Emotionalität in der Liedinterpretation. Schlecht besuchte Liederabende, Langeweile beim Zuhören, Verdruss über die immer gleichen Interpretationsrezepte besonders im deutschen Liedgesang zeugen von einer dringenden Notwendigkeit zu neuen Wegen in der Liedinterpretation. Die von Vielen schon totgeglaubte und totgeredete Kunstform benötigt dringend eine „Wiedergeburt".
Was hat zu dieser Erstarrung geführt? In erster Linie sicher die Überschätzung und die übermäßige Verehrung einzelner Interpreten. Wenn neben einem Fischer-Dieskau nichts mehr gilt, jeder Bariton an ihm gemessen wird, dann muss das zu Stillstand in der Liedinterpretation führen. Und nicht nur dazu, denn es geht ja sogar so weit, dass den anderen Stimmfächern keine besondere Bedeutung in diesem Bereich zuerkannt wird. Zugespitzt formuliert heißt das: Nur der deutsche Bariton ist fähig, (deutsche) Kunstlieder angemessen zu interpretieren.

Was aber ist die ursprüngliche Bedeutung von Interpretation?
Der Begriff stammt aus dem Lateinischen: interpretatio, Deutung, Übersetzung, Erklärung – im Lexikon näher erläutert mit „Wiedergabe nach eigenem Verständnis, Deutung“ – und dieses eigene Verständnis, die Individualität, also Unverwechselbarkeit unter Berücksichtigung der Werktreue liegt nicht mehr vor. Künstlerischer Ausdruck entsteht aber nur durch Unverwechselbarkeit und Authentizität, wo dieser fehlt, macht sich schnell Beliebigkeit oder Uniformität breit, das Publikum wird ausgeschlossen und Langeweile ist vorprogrammiert.

Natürlich sind die Verdienste eines Fischer-Dieskau für die Akzeptanz und die Verbreitung des Kunstliedes nicht von der Hand zu weisen, da wurde Pionierarbeit geleistet, um das Lied aus seinem Schattendasein zu befreien und vom dilettierenden Laiengesang auf das professionelle Konzertpodium zu heben. Daraus jedoch abzuleiten, dass nur die Auffassung dieses Sängers zur Liedinterpretation gilt, ist für die Weiterentwicklung dieser Kunstform und Berücksichtigung der völlig anderen Zeit in der wir nun leben sehr unklug und gefährlich.

Ein weiterer Aspekt hat aber ebenfalls zu dieser Erstarrung im Liedgesang geführt: die Gesangstechnik. Natürlich ist die technische Ebene nicht von der eingefahrenen Interpretationsart im Liedgesang zu trennen, für eine Analyse und Verdeutlichung sei dies jedoch erlaubt. Die so genannte deutsche Gesangstechnik (hier nur in Kürze beschrieben) bevorzugt offene Vokale, ein Nebeneinanderstellen der Register und einen etwas starren hupenden Klang. Sänger*(1), die nach dieser Technik ausgebildet werden, haben folgende Defizite, die sich im Laufe der Jahre noch verstärken: eine begrenzte Tiefe und Höhe, eine geringe Schwell- und Tragfähigkeit der Stimme, Schwierigkeiten mit dem Passaggio in die Höhe, ein völliges Auseinanderfallen der Register (Singen in drei Etagen) und ein Nebeneinanderstehen von Vokal und Konsonant (was zur Luftdruckverstärkung auf Konsonanten („Spucken“) führt) um die Wesentlichen zu nennen.
Besonders Baritone kompensieren den Höhenmangel ihrer Stimmen dann gerne mit einem unschönen Gebrauch des Falsetts, was den Stimmklang noch mehr zerfallen lässt. Bei Fortestellen stellt sich durch starkes Forcieren, da der Ton nicht anders anspricht, ein harter, fester, unflexibler Klang ein (Rufen, Bellen oder Schreien jenseits des Timbres statt Forteklang). Frauenstimmen haben in der hohen Lage im Laufe der Zeit mit einem unkontrollierbaren Vibrato, einem knabigem Klang und Luft in der Mittellage und einer rauen Brustsstimme zu kämpfen*(2).

Die meisten deutschen Liedsänger sind nach dieser oder ähnlicher Technik ausgebildet worden, warum sich das Klangbild natürlich sehr ähnelt. Beim Hörer hat sich im Laufe der Zeit dadurch eine gewisse Gewöhnung eingestellt: manche wollen nur dieses hören (besonders ältere Menschen), andere (und sie bilden die Mehrheit) sind gelangweilt oder sogar abgestoßen, ob des hässlichen unflexiblen Klangs mit all seinen Folgen und wenden sich ab.

Besonders bedauernswert ist es, wenn die genannten stimmtechnischen Probleme von Einigen mit Ausdruck verwechselt werden. Sogar Angestrengtheit, Brüchigkeit oder Rauhigkeit, völliges Verlassen des persönlichen Timbres werden dann als charaktervoll bezeichnet, als handelte es sich um Rock- oder Popgesang. Hat ein Sänger aber erst einmal solche gewaltigen Stimmprobleme, ist er zu wirklicher Interpretation gar nicht mehr in der Lage. Alle Versuche zu textlich-musikalischer Ausdeutung sind zum Scheitern verurteilt, es bleibt alles schemenhaft, plakativ und oberflächlich.

Was ist zu tun?
Die altitalienische Gesangstechnik, die zu großer Individualität, vokaler Schönheit (echter Belcanto) und langem Leben einer Stimme führt und die leider immer mehr auszusterben droht, weil immer weniger Sänger sie beherrschen und somit nur die Wenigsten diese weitergeben können, ist durchaus nicht nur im Operngesang vorstellbar.
Ihre wesentlichen Merkmale sind eine optimale Durchmischung der Register (ideales Passaggio) sowie ein einheitliches Vibrato durch alle Register, eine herausragende Schwell- und Tragfähigkeit der Stimme, eine gute Höhe und Tiefe ohne Verwendung des Falsetts o.ä. zur Erweiterung des Ambitus. Darüber hinaus ein Piano, das auf Forteposition gebildet wird, ein wirklicher Vokalausgleich und ein Vordersitz, der niemals erzwungen wird und somit die Artikulation enorm erleichtert (Textverständlichkeit), Vokal und Konsonant werden ideal verbunden, das Ergebnis ist Natürlichkeit*(3).

Im Liedgesang eingesetzt führt die altitalienische Gesangstechnik zu erstaunlichen, neuen Ergebnissen der Interpretation: Hupender Klang beispielsweise wird abgelöst durch eine beseelte Vokallinie, an die Stelle von forciertem Klanggepräge (Rufen, Bellen oder Schreien) bei Fortepassagen tritt ein klingendes Forte, welches im Timbre des Sängers bleibt, schwingungsfähig ist und durch die Eigenresonanz auch Resonanz beim Hörer erzeugt. Manieriertes „Spucken“ von Konsonanten wird ersetzt durch natürliche Artikulation ohne Luftdruckverstärkung auf einzelnen Konsonanten. Durch eine frei schwingende Stimme und damit auch eine gesamtkörperliche Durchlässigkeit wird es überhaupt erst möglich, eine persönliche (personare - hindurchklingen) Interpretation zu erreichen. Die so oft zitierte Verschmelzung von „Körper-Seele-Geist“ kann so erst erlebbar werden. Deklamatorisches und kantables Element widersprechen sich nicht mehr, sondern können auf natürliche Art miteinander verbunden werden. Auch im dynamischen und im Klangfarbenbereich ist die altitalienische Technik der deutschen weit überlegen. Dadurch dass das Piano auf Forteposition gebildet wird, kann der Sänger jederzeit mühelos von einer dynamischen Forderung in die andere wechseln und bleibt dabei immer in seinem Timbre. Das heißt aber nicht, dass er monochrom singt, sondern im Gegenteil mit einer großen farblichen Nuancierungskraft durch das freie Spiel mit phonetischen Räumen innerhalb seiner persönlichen Stimmfarbe. Klangverfremdung der Stimme wird also ersetzt durch Klangnuancierung, Oberflächlichkeit des Ausdrucks weicht Intensität des Ausdrucks.

Wenn der Sänger seine Stimme solcherart beherrschen lernt, ist er in der Lage, seinen Emotionen freien Lauf zu lassen. Befreit er sich dann auch noch von altbackenen Interpretationsmustern, ist der Weg frei für neue Ergebnisse im Liedgesang.

Mit großer Intensität und Emotionalität zu singen und zu interpretieren bedeutet aber auch, den mimisch-gestischen und den Bewegungsaspekt nicht außer Acht zu lassen. In diesem Bereich ist noch wahre Pionierarbeit zu leisten. Wer kennt nicht das Bild des steifen Sängers, oft an den Flügel geklammert, der artig seine Verse vorträgt?
Natürlich stehen auch hier Gewohnheiten, die fast schon Tradition geworden sind massiv im Wege. Dabei ist es möglich, die Bühnenpräsenz und Ausdruckskraft auf dem so heiklen (weil "nackten": ohne Kostüm und Requisite und ohne Szene) Konzertpodium zu verbessern und zu erhöhen, wenn man sich als Sänger öffnet für diesen äußerst sensiblen und anspruchsvollen Bereich.
Gemeint sind nicht billige, Effekt heischende Gesten oder aufgesetzte, unnatürliche Mimik, das ist ein Verharren in Oberflächlichkeit – wie es leider besonders bei Sängern häufig zu beobachten ist - sondern tief aus dem Innern der Person fließende, echte Emotionen, die sich dann auch mimisch-gestisch äußern können. Um das zu erreichen, ist ein langjähriges Training notwendig, das auch voraussetzt, dass der Sänger sich in Demut öffnen kann und jegliche Eitelkeit überwunden wird.

Würden mehr Sänger sich darauf einlassen, die ausgetretenen Pfade der Interpretation, die zu Stimmproblemen führende Gesangstechnik und alte Präsentationsvorschriften auf dem Gebiet des Kunstliedes aufzugeben und stattdessen wie beschrieben, mit Mitteln des Belcanto (altitalienische Gesangstechnik) und einer Verschmelzung von Mimik, Gestik und Bewegung neue Wege auszuprobieren, wäre es möglich, dieser Kunstform neue Chancen auf dem Konzertpodium zu eröffnen, indem es zu einer unverfälschten, intensiven Bühnenkunst umgestaltet und so in eine packende und bewegende Kommunikationskunst mit dem Hörer verwandelt würde.

Verena Rein

(1) Zur Vereinfachung wird hier und im Folgenden nur der männliche Begriff Sänger verwendet, gemeint sind immer Sängerinnen und Sänger.
(2) Die Gründe für diese Defizite und Stimmprobleme sind so komplex, dass sie hier aus Platzgründen nicht dargestellt werden können. Zu diesem Thema ist ein gesonderter Artikel notwendig.
(3) Zu altitalienischer Technik siehe auch Artikel: „Zungentechnik beim Gesang“ von Verena Rein