Von der Kunst des Auftretens


- Betrachtungen über ein sehr komplexes Phänomen


- erschienen in der nmz (Neue Musikzeitung) Ausgabe April 2007 - veröffentlicht auf der Internetplattform des DTKV Berlin




Wie schaffe ich es, Hemmungen auf der Bühne abzubauen?
Wie kann es gelingen, meinen ganz persönlichen Ausdruck zu finden?
Wie kann ich authentisch mit meinem Publikum kommunizieren?

Diese und noch viel mehr Fragen den Auftritt betreffend haben wohl schon viele Musiker beschäftigt. Da übt man jahrelang, bringt es stimmlich oder auf seinem Instrument zu immer größerer Vervollkommnung, aber auf der Bühne will der Funke nicht so recht überspringen. Wie kommt es dazu?

Dass für eine professionelle musikalische Leistung ein hohes technisches Können unerlässlich ist, dass das Erwerben dieses Könnens viele Jahre in Anspruch nimmt und dass ein Musiker nie nachlassen darf, dieses Können zu vervollkommnen, da sonst Stagnation und Rückschritte die Folge sind, ist allgemein akzeptiert. Auch dass Technik und musikalischer Ausdruck verschmelzen müssen und gute Lehrer von Anfang an dem Schüler diese Ebenen bewusstmachen und ihm in verarbeitbaren Schritten einen Weg zu einer solchen Verschmelzung aufzeigen, wird wohl niemand in Frage stellen.

Ganz anders stellt es sich aber dar, wenn man den Konzertauftritt betrachtet. Hier klafft zumeist eine große Wissens- und Erfahrungslücke und daraus resultierend sorgen Unsicherheit und Ängste dann oftmals für eine innere Ablehnung vor einer intensiven Auseinandersetzung mit allen Aspekten des Auftretens.

Besonders extrem zeigt sich dieser Mangel an Auseinandersetzung, dieses nicht Vorhandensein von „Bühnenkönnen“, beim Gesang. Muss der Sänger doch Worte vermitteln, Geschichten erzählen und dabei den Blick immer seinem Publikum zuwenden. Muss er also im besten Sinne ein guter Schauspieler sein.

Die Hauptprobleme auf dem Konzertpodium im Einzelnen:

1. eine allgemeine körperliche Steifheit
2. eine schlechte Haltung
3. ein mangelndes Raumempfinden
4. ein unzureichendes Atembewusstsein
5. eine Diskrepanz (Uneindeutigkeit) zwischen Mimik, Gestik und Bewegung (wenn überhaupt vorhanden)
6. eine tiefe Kluft zwischen der Aussage des jeweiligen vorgetragenen Werkes und der Körpersprache
7. fehlende energetische Spannung vor Einsätzen und in Gesangspausen, kein Untertext
8. insgesamt ein mangelndes Bewusstsein für die Erfordernisse im geistig-emotionalen Bereich auf dem Konzertpodium
9. aus all den genannten Punkten resultierend: ein fehlender Kontakt zum Publikum, eine fehlende Botschaft

Wenn darum im Folgenden besonders auf den singenden Menschen eingegangen wird, heißt das jedoch nicht, dass die zu behandelnden Gebiete nicht auf den Instrumentalisten übertragbar wären. Im Gegenteil wird vielleicht durch die besondere Situation des Sängers - fallen bei ihm doch naturgemäß Steifheit, Uneindeutigkeit und mangelndes Körperbewusstsein am schnellsten auf - auch dem Instrumentalisten deutlicher, wie notwendig ein jahrelanges (besser: lebenslanges) Training zum Schulen und Beherrschen der Bühnenkunst ist.

Körper und Atem

Um überhaupt neue und tiefe Erfahrungen für die spätere Bühnensituation sammeln zu können, muss zunächst der Körper des Menschen „geweckt“ werden. Erst wenn die Körperwahrnehmung stärker wird, wir im Idealfall dann in unserem Körper „wohnen“, wird es möglich, mittels des inneren Selbst’ durch den Körper zu sprechen, das Geistige und Seelische natürlich nach außen zu bringen. Aber bis dahin ist es ein weiter Weg.

Ein Training, das von Anfang an Körper und Atem verbindet, ist mit Sicherheit am effektivsten. Für welche sogenannte Atemschule man sich auch entscheidet, wichtig ist, dass man keine leeren Übungen ausführt, sondern immer die Vorstellungskraft mitschult und die Körperempfindungen erspüren lernt. Am Anfang tun sich Viele damit äußerst schwer, ist der westliche Mensch doch sehr ergebnisorientiert und möchte mit seiner Willenskraft schnell ans Ziel kommen. Kaum tritt aber der Willen in den Vordergrund, ist der Weg zu einer tieferen Körpererfahrung versperrt.

Wiederholung

Wichtig ist, die Körper- und Atemarbeit in sein tägliches Üben zu integrieren und so immer mehr zu vervollkommnen. Ohne Anleitung wird das zunächst nicht möglich sein, die Kontrolle durch einen erfahrenen Lehrer ist unerlässlich und hilft, die Richtung zu bahnen. Und danach heißt es immer wieder: Geduld, Geduld und nochmals Geduld – die Erfolge stellen sich sehr langsam ein, der Mensch braucht viel Zeit, um seine Empfindungen zu schulen, auch wenn diese Erkenntnis dem „modernen Individuum“ von heute unattraktiv erscheinen mag.

Spannung und Entspannung

Eines der größten Probleme auf der Bühne ist beim Sänger zumeist ein zuviel an Spannung, besser gesagt Verspannung. Das behindert ihn natürlich in erster Linie beim Singen selbst, aber auch jegliche körperliche und mimische Ausdruckskraft, die dem darzubietenden Werk gemäß wäre, wird dadurch blockiert. Vielen gelingt es überhaupt nicht mehr, Entspannung zu fühlen. Sie wissen nicht, wie sie dorthin gelangen sollen. Natürlich muss zuerst ergründet werden, wo diese Verspannung herrührt, ob es sich um (gesangs-)technische Probleme handelt, ob Bühnenängste oder Leistungsdruck eine Rolle spielen etc..
Hier muss ein gezieltes Körpertraining ansetzen, das in starken Kontrasten den Musiker zunächst einmal extreme Spannung und völlige Entspannung fühlen lässt. Danach lässt sich der Weg durch elementares Schauspieltraining ebnen. Mittels dieser spielerischen Herangehensweise lassen sich erstaunliche Ergebnisse erzielen: plötzlich entdecken Musiker Dinge, die in ihnen steckten, von denen sie nicht einmal ahnten – und ohne ständig das Verspannungsthema zu verbalisieren, beginnen sich die ersten Knoten zu lösen.

Zeit und Raum

Wie sich die Musik in der Zeit entwickelt, so sollte dem Musiker klar werden, dass auch seine Darstellung auf der Bühne dem gleichen Prinzip unterliegt. Eine begonnene Bewegung, eine bestimmte Gestik oder Mimik kann in der Zeit wachsen, kann abnehmen oder in eine andere übergehen. Dabei ist es wichtig, dass dies niemals allein vom Kopf her geschieht, sondern aus einem Gefühl für Zeit und Raum. Auf diese Weise erscheinen alle noch so kleinen Veränderungen organisch und natürlich, wohingegen kopfgesteuerte Bewegungen, unnatürlich, künstlich, oftmals eckig und steif und dadurch irritierend auf das Publikum wirken.
Unerlässlich ist es auch, sich bewusst zu werden, wie sehr es auf der Bühne darauf ankommt, dass bei allem, was man tut, der gesamte Körper beteiligt ist, auch wenn für das Publikum nur eine kleine Bewegung sichtbar ist. Lächelt beispielsweise der Sänger, so muss der gesamte Körper lächeln, macht er eine Armbewegung, so wird dadurch der gesamte Körper bewegt, ist durchlässig und elastisch.

Geht man einen Schritt weiter über die Grenzen des Körpers hinaus, gilt es, das Bewusstsein für den Bühnenraum zu schärfen. Viele Sänger bleiben u.a. deswegen so isoliert und abgeschirmt von ihrem Publikum, weil sie kein oder ein unzureichendes Gefühl für den Raum um sich entwickeln können.
Ähnlich wie beim zuvor genannten Empfindungstraining für Spannung und Entspannung, das zunächst in extremer Weise geübt werden muss, helfen auch zum Erlangen von Raumempfinden extreme Vorstellungen. So kann schon der Gang auf die Bühne nicht nach ein paar Metern bis zum Erreichen des Flügels, Notenpultes usw. enden, sondern der Musiker kann sich z.B. vorstellen, er würde neugierig eine weite Reise unternehmen, auf der es viel zu entdecken gibt. Dann endet seine Vorstellung nicht nach ein paar Metern, sondern weist weit über die Grenzen des Saals hinaus und er wird das Publikum auf seine Reise mitnehmen können
Ein Blick, ein Gesichtsausdruck, der die Empfindung über eine Passage eines Liedes oder einer Arie widerspiegelt, wirkt umso intensiver und ehrlicher, je höher diese Emotion auffliegen kann (bis ins Universum?). Eine Körperbewegung, die aus dem Impuls einer bestimmten Energie des Werkes kommt, endet nicht abrupt, sondern wirkt in den Raum hinein, wenn der Künstler in seiner Vorstellung diese Energie weiterfließen lassen kann (in eine imaginäre Landschaft?).
Die Phantasie und Kreativität kann also in diesem Bereich gar nicht genug angeregt werden – ein sehr begrüßenswerter „Nebeneffekt“ ist dabei aber auch, dass das von Vielen als so quälend empfundene Lampenfieber (also Bühnenangst und -hemmungen), seine Bedrohlichkeit verliert und als positive Energie genutzt werden kann.

Ruhe und Erregung

Immer wieder hört man folgende Sätze aus dem Mund von Sängern: „Wenn es ein sehr leidenschaftliches oder wütendes Stück ist, das ich zu singen habe und ich mich mit meinem ganzen Sein und Fühlen dort hineingebe, dann rutscht mir die Stimme hoch, ich werde fest und verbrenne quasi durch die Stärke der Emotion.“ – oder das Gegenteil: „Traurige, melancholische oder sehnsüchtige Stücke, die ich wirklich ehrlich empfinde, bewirken immer, dass mein Körpertonus schlaff wird, ich in der Emotion versacke. Dann leidet die Intonation, alles ist zu tief, zu matt und wird langweilig.“
Das ist in der Tat ein Dilemma, mit dem man sich als Sänger ständig auseinandersetzen muss. Nicht nur der Sänger fühlt sich unwohl, wenn er in die beschriebenen Extreme rutscht, auch das Publikum bemerkt, wenn der Künstler stecken bleibt in Stimmungen, wenn diese Besitz von ihm ergreifen, er in ihnen erstarrt. Im ersten Fall werden die Zuschauer/-hörer zu große Anstrengung empfinden, im zweiten werden sie in ihrer Aufmerksamkeit nachlassen, weil die Darbietung „versackt“, „totläuft“, stehen bleibt.
Es gilt also eine Dualität der Empfindungen zu erlernen, die sich dann auf alle Körperfunktionen auswirkt. Damit kann jedoch erst begonnen werden, wenn das Körperbewusstsein des Sängers bereits längere Zeit geschult worden ist. Beginnt man zu früh, werden alle Fortschritte zunichte gemacht, sind Frustrationen vorprogrammiert. Als Faustregel gilt: Wenn ich ein sehr aufgewühltes Stück zu singen habe, muss ich darunter völlig ruhig sein – wenn ich Traurigkeit, Tod, Erstarrung zu interpretieren habe, muss ich darunter dynamisch sein.
Es gibt also quasi einen doppelten Boden, das tiefste Innere des Künstlers empfindet das Gegenstück zu den nach außen strebenden Emotionen. Nur dann sind die Gefühlsregungen auf der Bühne überzeugend und authentisch. Daraus wird sicher sehr deutlich, wie genau ein Musiker seine Körperempfindungen geschult haben muss – wie soll er sonst in de Lage sein, sein Innerstes „leer“ zu machen, um jederzeit von einer in die andere Emotion wechseln zu können?

Mimik und Gestik

Sind Körper und Atem durch Wiederholung und Hingabe mehr und mehr geschult, hat man ein Gespür für Spannung und Entspannung entwickelt, gewinnt man allmählich eine Empfindung für Zeit und Raum und beginnt man die Dualität von Ruhe und Erregung der Darstellung zu erahnen, werden auch mimische und gestische Aspekte eine völlig neue Bedeutung für den Sänger erhalten.

In der Regel sieht man entweder zu wenig Mimik und Gestik auf der Bühne, was dann die Steifheit und Beliebigkeit der Darbietung noch unterstützt, oder man hat es mit übertriebener, „falscher“ Mimik und leeren Gesten zu tun, die negativ von der Musik ablenken, den Fluss stören und Doppel- oder Mehrfachbotschaften aussenden. Diese können aber vom Publikum nicht verstanden werden und die Kommunikation mit den Zuschauern/-hörern wird stark behindert.

Ist der Musiker aber wie oben beschrieben geschult, werden seine Mimik und Gestik das „Fenster“ seiner Empfindungen werden, durch das er zu seinem Publikum spricht und durch das dieses umgekehrt in die Empfindungen des Künstlers blicken kann.
Viele Sänger befürchten, sie wären dann ihrer Zuhörerschaft schutzlos ausgeliefert – ein fataler Irrtum, denn je ehrlicher ich vor mein Publikum trete, desto stärker werde ich, desto leichter kann ich alle auf meine Reise durch die Musik mitnehmen und somit erreichen und begeistern.

Intellekt und Ratio

Sicher fällt auf, dass das Thema Intellekt und Ratio erst so spät in dieser Betrachtung Berücksichtigung findet. Das Thema Köperempfindung, Wahrnehmungsschulung, die Emotionalität und seelische Durchdringung als Bestandteile der Bühnenkunst fanden hingegen breiten Raum. Warum dieses Verhältnis?
In unserer westlichen Welt werden körperliche Empfindungen, subtile Wahrnehmungen und seelische Intensität eher vernachlässigt. Rasch kommt auch ein negativer Beigeschmack von (falscher) Esoterik auf oder man befürchtet Manipulationen, die nicht kontrollierbar sind und destruktive Auswirkungen haben könnten . Viele Musiker haben zudem einen großen Schutz-(?)wall um sich aufgebaut, um Konkurrenz- und Leistungsdruck im Klassikgeschäft aushalten zu können. Da kann es sehr bedrohlich auf sie wirken, wenn ihnen diese Mechanismen genommen werden.
Viel leichter fällt es den meisten, sich ganz auf ihren Intellekt zu verlassen:
Das Stück hat diesen oder jenen Charakter, diese oder jene kompositorische Struktur, man studiert alle Aspekte von Tempo und Dynamik, bemüht sich um eine blendende Diktion. Beim Auftritt achtet man auf eine gerade Haltung, vielleicht hat man auch gelernt, dass der Blick in die Ferne gehen soll. Gewisse Gesten zum Unterstreichen des Sinngehalts des Werkes hat man sich möglicherweise auch angewöhnt – und trotzdem bleibt der Auftritt seltsam leer, gleichsam unlebendig und auswechselbar.
Es fehlen alle körperlich-seelischen Aspekte, jegliche Empfindungsspontaneität, energetische Spannung, also im wahren Sinn Lebendigkeit.
Darum betont dieser Artikel diese Ebenen, ohne aber die intellektuelle Seite des Bühnenauftritts ganz zu negieren.
Selbstverständlich muss es auch eine intensive geistige Auseinandersetzung mit der Musik geben, andernfalls hätte die Interpretation keine Richtung, keine Tiefe. Nur sollte diese lange vor dem Bühnenauftritt abgeschlossen sein, damit dort dann andere Kräfte wirken können, die intellektuelle Seite aber quasi unmerklich und unaufdringlich mitschwingt.

Resumee

Bühnenhemmungen zu überwinden, nach einem ganz persönlichen Ausdruck zu suchen und eine authentische Kommunikation mit dem Publikum anzustreben bedeutet also für den Musiker, sich für alle genannten Aspekte der Bühnenkunst zu öffnen. In kleinen Schritten wird dann eine Arbeit möglich, die Empfindungen, Sinne und Wahrnehmung schult und dadurch nach und nach eine Synthese der besprochenen Elemente möglich macht. Langjähriges Training lässt also technisches Können, musikalischen Ausdruck, Körperempfindung, Wahrnehmung von Zeit und Raum, Mimik, Gestik und Bewegung sowie geistig-emotionale Aussage zu einem im besten Sinne künstlerischen (nicht künstlichen) Ganzen verschmelzen, das unverwechselbar ist – ein Labsal für Künstler und Publikum.

Verena Rein