Zungentechnik beim Gesang?


Für viele eine ungewöhnliche oder sogar negativ besetzte Vorstellung – ein Tabu.

Bei den Blasinstrumenten eine obligatorische Technik zur Artikulation (wenn auch naturgemäß sehr verschieden vom Gesang), wird Zungentechnik über bestimmte Haltungsvorschriften hinaus in der Gesangsausbildung nicht unterrichtet, zu viel Aufmerksamkeit auf die Arbeit des Zungenmuskels wird oft gar als schädlich angesehen, da dies zu Versteifungen führen könne:

„...Zungenmethoden für alle ist mechanistische Vergewaltigung.“
(Zitat aus „Der wissende Sänger“ von Franziska Martiessen-Lohmann 1956/63)

Man ist sich zwar einig, dass die Zunge beim Singen locker und beweglich sein muss, doch soll dies möglichst nicht bewusst geschehen. Für die Höhe gilt dann zumeist die Vorschrift, die Zunge flach zu legen und die jeweiligen Vokale im Stimmsitz zu imitieren:

„...Vom hohen Übergang an muss die Zunge flach hingelegt werden. Das i wird nur noch durch die „Schärfe“ des Tones im Stimmsitz imitiert...“
(Zitat aus „Singen lernen? Aber logisch!“ von Renate Faltin, 1999)

oder:

„...Das Vorneliegen der Zunge beim Singen ist eine sehr alte, anerkannte und scheinbar obligatorische Gesangsvorschrift. Die Tatsache, dass wir berühmte Sänger hatten und haben, deren Vokalschönheit durch sichtlich falsche Zungenhaltung (hoch- und schräg-gestellt) nicht beeinträchtigt wurde und wird, führt nun durchaus nicht die Forderung des Vorneliegens etwa ganz ad absurdum...“
(Zitat aus „Der wissende Sänger“ von Franziska Martiessen-Lohmann, 1956/63)

Vehement vertreten die Verfasser des folgenden Zitates die Ansicht, dass der Zunge keine besondere Rolle bei der Gesangstechnik zukommen darf:

„...Unbegreiflich ist auch der Satz: ‚Die Haltung der Zunge beherrscht die Arbeit des Kehlkopfes.’ Die Zunge darf der Kehle keinerlei Hilfe leisten, sie ist lediglich Mitformer bei der Bildung der Sprechlaute und gute Sänger wussten das auch immer schon...“
(Zitat aus „Singen“ von Frederick Husler und Yvonne Rodd-Marling, 1965)

Noch 2002 wird Folgendes postuliert:

„...Eine alte Anweisung besagt: Die Zungenspitze liegt zur Vokalisation (und nach Beendigung gewisser Laute sofort wieder) vorne, lose und ohne zu drücken an den unteren Schneidezähnen oder seitlich am unteren Zahnkranz...“
(Zitat aus „Stimme und Gesang“ Handbuch der Gesangsdidaktik, 2002)

Diese Liste ließe sich noch lange weiterführen. Es scheint, dass eine über Jahrzehnte befolgte „Vorschrift“ nicht oder nur unzureichend hinterfragt wird, obwohl das Festhalten an dieser „Methode“ unüberhörbar Stimmschäden zur Folge hat.

Als stimmwissenschaftlich erwiesen gilt mittlerweile, „dass durch die flach gehaltene oder nach hinten gezogene Zunge Druck auf die Stimmbänder ausgeübt wird und der Hauptresonator (Pharynx) mit dem hinteren Teil der Zunge verstopft wird.“¹

Eigentlich handelt es sich bei der im Folgenden beschriebenen Gesangstechnik mit gewölbter statt flach gelegter Zunge um ein altes Wissen, das seinen Ursprung in der altitalienischen Schule hat und leider mehr und mehr auszusterben droht, obwohl die neueste Stimmwissenschaft dieses alte Wissen bestätigt:

„...Die Stimmwissenschaft steht als eindeutiger Beweis dafür, dass die Zunge vorgewölbt und aus dem hinteren Teil der Kehle herausgebracht werden sollte, um den Stimmbändern das freie und natürliche Vibrieren zu ermöglichen und den Hauptresonator (Pharynx) zu öffnen. Es ist von äußerster Wichtigkeit, dass der Grund der Zunge und der Kehlkopf voneinander unabhängig werden...“²

Ausgehend von diesen und weiteren Erkenntnissen entwickelte der Bulgarische Tenor, Stimmforscher (seit 40 Jahren) und Gesangspädagoge Peter Gougaloff ein spezielles Vokal-(Zungen-)training, das es dem Sänger ermöglicht, durch alle Register seiner Stimme in freie Resonanz zu gelangen, bei höchster Individualität des Klangs und wirklichem Vokalausgleich.

Eine besondere Rolle spielt dabei das Schwa «ǝ» - der mittlere Zentralvokal - sowie viele aus diesem entwickelte Laute, die über den gesamten harten Gaumen quasi stufenlos verstellbar mit der Zunge gebildet werden können (unterschiedliche Resonanzstellen).
Computer-spintomographische Untersuchungen ergaben nämlich, dass bei dem Vorhandensein des «ǝ» als Kern jeden Vokals, der jeweilige erzeugte Ton/Klang ein optimales Obertonspektrum besitzt, die Register perfekt gemischt werden können und das Passaggio keine Probleme mehr bereitet. Auch kommt es bei richtigem Einsatz des «ǝ» zu einem ausgeglichenen idealen, klangveredelnden Vibrato (acht Schwingungen pro Sekunde) durch alle drei Stimmregister.

Peter Gougaloff erreichte mit seinen speziell entwickelten Vokalübungen dieses ständige Vorhandensein des «ǝ» durch Zungenimpulse. Mittels dieser Technik können alle Vokale ohne Klang-(Oberton-)verlust frei in der Maske schwingen. Das Ergebnis ist eine ausgeglichene, mit großer Leichtigkeit und dennoch voller Resonanz (Sonorität) schwingende individuelle Gesangsstimme mit herausragender Tragfähigkeit.

Durch den perfekten Vordersitz, der durch diese Zungentechnik mit Hilfe der Gegenkraft erreicht wird, wird die Artikulation der Konsonanten enorm erleichtert. Kein manieriertes «Spucken» (wie oft sehr unschön z.B. beim «t» zu hören) und Übertreiben ist nötig, um textverständlich singen zu können. Es kommt zu einem Ineinandergreifen von Vokal und Konsonant ohne Luftdruckverstärkung auf einzelnen Konsonanten, was zu einer angenehmen Natürlichkeit der Artikulation führt und neue Farbigkeit der Interpretation zulässt.³

Das «ǝ» ermöglicht darüberhinaus auf physiologisch perfekte Weise den für die Gesundheit der Gesangstimme so unverzichtbaren weichen Stimmeinsatz durch alle drei Register. Einem frühzeitigen Altern der Stimme wird so effektiv entgegengewirkt und die Arbeit am klingenden auf Forteposition gebildeten Piano wird zum Labsal.


Verena Rein (2006 überarbeitet 2013)

¹ Zitat aus dem Artikel „Die Gefahren einer flachen oder nach hinten gezogenen Zunge“ von David Jones, 2000.
² Zitat aus dem Artikel „Die Gefahren einer flachen oder nach hinten gezogenen Zunge“ von David Jones, 2000
³ Leider wird ja besonders im sogenannten deutschen Liedgesang immer noch auf sehr manierierte Artikulation mit mattem Vokalklang (oberton- und schwingungsarm: «hupender» Ton) wert gelegt. Hier ist es aus musikalisch-ästhetischer Sicht, aber besonders für die Gesundheit der Singstimme dringend an der Zeit, alte Hörgewohnheiten und starre Interpretationsvorschriften abzulegen!